Von Peter Bernet (2017)
Ein Haus nach dem andern ging in Flammen auf
Dorfbrand
Innert zwei Stunden waren in Grindelwald 116 Gebäude abgebrannt und 412 Einheimische obdachlos. Die Brandkatastrophe vor 125 Jahren am 18. August 1892.
Der weit herum bekannte Grindelwalder Grossrat und Bärenwirt Fritz Boss befand sich gerade auf einem Rundgang um sein Hotel. Es war am 18. August 1892, 3 Uhr nachmittags, an einem Donnerstag. Ein heftiger Föhnsturm tobte, es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, und es herrschte eine Hitze, wie man das noch selten erlebt hatte. Da entdeckte er Rauch auf dem Dach. Nun ging alles rasend schnell – viel zu schnell, um noch eingreifen zu können. Der Gasthof Bären war ein vierstöckiger, hölzerner Gebäudekomplex und Teile waren mit Holzschindeln gedeckt. Binnen kurzem stand das Hotel in Flammen, ebenso die Häuser der Umgebung mit einer Bäckerei und der Wirtschaft «Helvetia» von Bierbrauer Horn.
Auch die Englische Kapelle neben dem Hotel brannte lichterloh. Im Turm hing die kleine Glocke der Petronellakapelle, einem sagenumwobenen einstigen Wallfahrtsort am Unteren Gletscher, Grindelwalds wertvollstes Altertum. Sie schmolz. Ein wuchtiger Feuerorkan entwickelte sich mit einer Glutwolke, die im Föhnsturm talauswärts trieb. Ein Haus nach dem andern ging in Flammen auf, nur vereinzelte wurden übersprungen, wie das Haus der Bergführerfamilie Jossi zu Truffersbrunnen. Die Häuser waren fast ausnahmslos mit Schindeln gedeckt, klingeldürr nach den heissen Wochen und die Scheunen voll Heu. Sogar Schweifelhäge gerieten in Brand. Es ging alles so rasch, dass bald Scheunen oberhalb der Schwendi am Wagisbach brannten, gute dreiviertel Stunden Fussmarsch vom Dorfzentrum entfernt. Die Häuser im Tal unten blieben aber verschont, ebenso die Bauten hinder Itramen und Wärgistal. Sogar das nahe des Brandherdes stehende Haus Bernet-Jossi, heute Bazar Brunner, und von dort an alle Häuser und Hotels dorfeinwärts waren nicht betroffen. Der Föhn wirkte in der andern Richtung. Das Flammenmeer breitete sich talauswärts in Richtung Bussalp aus.
250 Gäste wohnten zur Zeit im Hotel und die meisten waren auf Ausflügen unterwegs. Die Männer der Feuerwehr waren in den Vorsassen am Heuen oder auf der Alp beschäftigt, oder sie trugen Gäste auf Tragstühlen auf das Faulhorn oder zum Gasthaus auf der Bäregg. Eine grosse «Dorf-Saugspritze» und zehn kleine Spritzen der Bergschaften ringsum wären wohl vorhanden gewesen, ebenso Leitern und Feuerhaken (ein solcher ist heute noch an der Aussenwand der Raiffeisenbank zu sehen), aber es fehlte das Personal dazu. Ein Bergführer kam gerade von der Bäregg herunter und musste von dort zusehen, wie sein Haus im Tal unten in Flammen aufging. Kinder, allein zu Hause, konnten sich wohl retten, mussten dann aber verzweifelt erleben, wie ihr Heim vor ihren Augen niederbrannte. Von der Lütschine herauf wurde eine Menschenschlange gebildet, die Wasserkübel von Hand zu Hand reichte, eine wohlgemeinte, aber hilflose Aktion, über die sich einige nachher lustig machten. Es seien Engländer und hübsche Engländerinnen dabei gewesen, sowie hunderte junger Südländer, wird später berichtet. Gegen achthundert italienische Bauarbeiter waren zu dieser Zeit in Grindelwald Grund stationiert, um die Wengernalpbahn auf die Kleine Scheidegg zu bauen.
Innert zwei Stunden waren im Grindelwaldtal 116 Gebäude zerstört und 412 Einwohner obdachlos. Die Gebäudeversicherungen waren ungenügend, weil sie nicht obligatorisch waren. Opfer der Flammen wurde auch das neue «Winterhotel», nach Davos eines der ersten in der Schweiz und 1888 die Geburtsstätte des Wintertourismus im Berner Oberland: ein heizbares, dreistöckiges Mansardenhotel. Immerhin gelang es gerade noch sechzig wertvolle Reit- und Kutschenpferde in Sicherheit zu bringen, den Stolz der Familie Boss. Früher war es Brauch, einander in Notlagen zu helfen, auch über die Gemeindegrenzen hinweg. So waren alle Feuerwehren aus den Lütschinentälern bald zur Stelle, ebenso aus dem Bödeli. Interlaken kam mit zwei Spritzen und dem Sicherheits- und Rettungskorps. Die Feuerwehr Wilderswil mit ihrer Feuerspritze blieb mehrere Tage, um schwelende Mottfeuer zu löschen. Sogar von Brienz kam Hilfe und aus dem Hasli erfahrene Meiringer Feuerwehrleute. ihr Dorf war ein Jahr zuvor abgebrannt. Vom Waffenplatz Thun wurde eine Abteilung einer Artillerie-Rekrutenschule nach Grindelwald befohlen. Dann erfuhr man Unglaubliches aus dem Simmental: St. Stephan war zur gleichen Zeit auch in einer Feuersbrunst abgebrannt. Wochen später gaben Vereine der Stadt Bern zu Gunsten der Brandgeschädigten in Grindelwald und St. Stephan Wohltätigkeitskonzerte.
Nach dem Brand des Hotels Bär trat der 77-jährige Johann Boss die Grundstücke mit den abgebrannten Bauten seinem 45-jährigen Sohn Fritz Boss ab, «auf Rechnung zukünftiger Erbschaft». Schon ein Jahr später entstand das «Grand Hotel Bear», in städtischer Bauweise massiv gebaut, mit 350 Betten, grosszügigen Gesellschaftsräumen und über 100 Angestellten. Es wurde 1894 eröffnet. Nach der Dorfkatastrophe fing in Grindelwald eine neue Zeit an: weg von den Dorfbrunnen hin zu einer Wasserversorgung mit Hydranten. Auch weg vom malerischen «Türmchengasthof Bär» für reiche Einzelfamilien hin zum «Grand Hotel Bear» mit grossen Gesellschaftsräumen und vielen Arbeitsplätzen für die Talbevölkerung. Das Hotel war auch im Winter geöffnet und wurde zu einem beliebten «Engländerhotel». Sogleich wurden aus der Brandkatastrophe die Lehren gezogen: Die Feuerwehr Grindelwald wurde neu organisiert, zudem baute man im ganzen Tal verstreut weitere Feuerweiher als Wasserreserven. Kein Mensch war nach dem Vorgefallenen dagegen. Bald darauf erhielt die Dorfkirche eine neue Glocke zum Gedenken an die Katastrophe. Sie wird heute noch benutzt.
Das Hotel Bär in Grindelwald von Osten, gebaut nach Plänen von Architekt Edouard Davinet, Architekt des Hotels Victoria und des Kursaals Interlaken. Im Turm brach 1892 der Brand aus, der halb Grindelwald einäscherte.
Das Winterhotel Bär wurde an Weihnachten 1888 als erstes Winterhotel im Berner Oberland eröffnet. Es wird als Geburtsstätte des Wintertourismus im Berner Oberland betrachtet. Seine Luftheizung galt als schweizerische Pionierleistung. Nach nur vier Jahren fiel 1892 das Gebäude in Schutt und Asche.
Die elegante Englische Kapelle von 1879 mit Grindelwalds wertvollstem Altertum im Türmchen: Eine kleine Glocke aus der verschwundenen Petronellakapelle, einem sagenumwobenen Wallfahrtsort am Unteren Grindelwaldgletscher. Alles wurde im Brand vernichtet.
Ein Haus nach dem andern ging in Flammen auf. Das Feuer breitete sich talauswärts rasend schnell aus. Verzweifelt versuchte man mit nassen Tüchern und Gras die Schindeldächer vor der stiebenden Glut zu schützen. Zeichnung des Augenzeugen Fritz Gysi, Zeichnungslehrer, Unterseen.
Der «Grosse Brand» von Grindelwald stiess in der Presse auf grosses Interesse, sogar im Ausland. In Bern fanden Wohltätigkeitskonzerte statt zu Gunsten der Brandgeschädigten von Grindelwald und St. Stephan. Das Dorf im Simmental brannte ebenfalls ab.
Am Tag danach. Was vom Bahnhof Grindelwald und von der grosszügigen Hotelanlage des Hoteliers Johann Boss übrig blieb: Schutt , Asche und Mottfeuer. In den Köpfen der Söhne Boss reiften jedoch sofort Pläne für einen Neuanfang. Schon zwei Jahre später wurde ein neues, prächtiges Grandhotel eröffnet.
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